Das ganze erinnert mich an Howard Hughes. Der sagenumwobene Milliardär
hatte sich die letzten Jahrzehnte seines Lebens in eine Zimmerflucht im
obersten Stockwerk eines Hotels in Las Vegas eingeschlossen. Aus Angst
vor Infektionen traute er sich nicht mehr auf die Straße. Er lebte
mit seiner Manie in klinischer Sauberkeit, in einem öden Vakuum zwischenmenschlicher
Beziehungen. An den Händen stets Nylonhandschuhe, durch und durch
von Pillen und Desinfektionsmitteln konserviert und gleichsam schon zersetzt.
Der Mann mit dem 300 SL hielt es ähnlich.
»Ich fahre nicht mehr hinaus auf die Straße«, sagte
er. So hält er das silberne Flügeltüren-Coupé in
einem Raum gefangen, für den das Wort Garage völlig unangebracht
wäre. Operationssaal wäre treffend:
gleißendes Neonlicht von der Decke, gekachelter Boden, Klimaanlage,
kein Stäubchen Staub. Die Temperatur bleibt Sommer und Winter konstant:
plus 17 Grad. Nicht mehr und nicht weniger. Die Luft wird entfeuchtet,
damit sich keine Korrosion einschleicht.
Der 300 SL steht schön wie am ersten Tag in der Mitte. Er kann
hydraulisch aufgebockt werden. Zweimal pro Woche - Mittwoch und Sonntag
- wird er abgesenkt auf einen Rollenprüfstand. Ein ausziehbarer Schlauch
wird über den Auspuff geschoben, die Abgase entweichen ins Freie.
Dann setzt sich der Mann ans Steuer, startet den Motor. Nach einer
Warmlauf-Phase von gestoppten sieben Minuten wird der erste Gang eingelegt.
»Ich drehe den Motor behutsam hoch, nie mehr als 5000 Touren - 6000
wäre die Höchstdrehzahl. Ich schalte in den vierten Gang hoch.
Dann fahre ich sechs Minuten Autobahn - mit konstanter Drehzahl, dann vier
Minuten Kurven... ich schalte mehrmals bis in den zweiten Gang zurück,
einmal in den ersten. Das Programm dauert genau zehn Minuten.«
Jeden Monat, so verriet er, wird das Öl gewechselt. Schließlich
gab er sein Intimstes preis - nicht was Sie glauben, wie oft er bei seiner
Frau anzutreten hat, nein, sondern es betraf sein Verhältnis mit dem
300 SL. »Einmal im Jahr«, flüstert er, »genehmige
ich mir in den unteren Gängen 6000 Touren«.
Das ganze Mausoleum kostete ein Vermögen. Mindestens so viel wie
der 300 SL. Später tastete ich mich bei seiner Frau, einer begnadeten
Malerin, zur Kernfrage vor: »Seit wann hat er das?«
Ich habe die Frage nicht ganz so direkt formuliert, aber es gelang
mir, den Rubikon zu überschreiten, und sie erzählte mir alles.
Er hatte 1956 einen brandneuen 300 SL gekauft, das Flügeltüren-Coupé.
In Silber. Er war jung, keine 40. Er wollte so gerne Rennen fahren. »Doch
die Rennen«, meint sie, »wären sein Tod gewesen. Nicht,
daß er ein schlechter Autofahrer war, ganz im Gegenteil. Er fuhr
- so weit ich das beurteilen kann - sehr gut, aber er war zu impulsiv,
zu nervös, er liebte das Auto über alles, doch wenn er damit
fuhr, hatte er Angst. Weniger um sich, als um sein Juwel.«
Eines Tages saß man in Südtirol in einem kleinen Dorf in
einem winzigen Restaurant. Ein paar Tische im Garten, der SL parkte hinter
den Sträuchern, man sah ihn silbern zwischen dem Grün durchschimmern.
Ein Sommerabend mit Prosciutto und Melone.
Zur Hauptspeise kam man nicht mehr. Ein Lastwagen, der eine Fuhre Holz
geladen hatte, fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit durch die
schmale Dorfstraße. Der Lenker war besoffen. Er streifte zuerst eine
Mauer, dann prallte er gegen den SL und zerquetschte ihn an einer anderen
Mauer.
»Unser Auto sah aus«, erinnerte sich die Dame, »wie
wenn man Silberpapier von einem Stück Schokolade zerknüllt und
wegwirft.«
Damals hat alles begonnen. Ein Jahr später kaufte er sich wieder
einen 300 SL. Wieder in Silber, wieder mit Flügeltüren. Er holte
das Auto an einem staubtrockenen Tag im Werk persönlich ab.
Es ist der Wagen, den er seit damals im Mausoleum gefangenhält.
Aus der österreichischen Zeitschrift »autorevue«, Heft 2/89
Gefunden in Riedner/Engelen, Mercedes-Benz 300 SL - Vom Motorsport zur Legende
© 1989 by Helmut Zwickl